Evangelische Kirchentag - Eröffnungsgottesdienst - Bischof Dr. Tamás Fabiny, Budapest/Ungarn
2011. június 1.
Matthäus 6,19–21
Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen. Predigttext: Matthäus 6,19–21 1907 brach die amerikanische Börsenpanik aus. An der New Yorker Effektenbörse begann ein plötzlicher Preissturz. Die Menschen bestürmten die Banken. Auf einem Foto ist eine aufgebrachte Menschenmenge in der Wall Street zu sehen. Millionen erlebten, wie plötzlich Motten, die sich unter dem Begriff „Spektulationen” verbreitet hatten, und Rost, der auch Pleite genannt wird, ihre irdischen Schätze vernichteten. Dann kommt mir ein weiteres Bild in den Sinn – ein Foto, das 1946 in Europa, in meiner Heimat Ungarn, aufgenommen wurde. Ein Straßenkehrer fegt auf den Straßen Budapests einen großen Haufen Papiergeld zusammen. Das war die Zeit der völligen Entwertung des damaligen Geldes. Mein Großvater erzählte, dass er für sein Monatsgehalt, bis er den Laden erreichte, nur noch ein Hähnchen kaufen konnte. Wenn er sich nicht genug beeilte, reichte der Monatsverdienst nur noch für zwei Eier. Die Inflation betrug 100 Quadrillionen Prozent – das ist mathematisch gesagt 10 hoch 26. Ich denke, außer den unter uns anwesenden Mathematikern kann sich diese Größenordnung von uns kaum jemand so recht vorstellen. Vielleicht hilft zum Verständnis, dass es damals 2-Trilliarden-Banknoten gab. Auf dem Geldschein stand eine 2 und dann folgten 21 Nullen. Doch dann kamen die Motten und der Rost. In jenen Jahrzehnten sind freilich auch viele Haltungen und Ideologien der Inflation zum Opfer gefallen. Auch sie mussten – bildlich gesprochen – zusammengekehrt werden und landeten auf dem Müllhaufen der Geschichte. Im östlichen Teil Europas ist der Materialismus kein neu entstandener Begriff. Vielen hier Anwesenden klingen Schlagwörter wie „Wissenschaftlicher Sozialismus”, „Kampf gegen die religiöse Weltanschauung und die klerikale Reaktion” bekannt im Ohr. Die Macht wollte über Parteiorgane und ihr Stasi-Netz alles kontrollieren. Gegen die Konfirmation wurde den jungen Menschen die Jugendweihe aufgezwungen. Die Kirchenleitung musste von der „Kirche im Sozialismus” oder – bei uns in Ungarn – von der „diakonischen Theologie” sprechen. Und dann kamen wieder Motten und Rost – und die alten, verstehen Sie das folgende Wort gerne in Anführungszeichen, „Werte” wurden zunichte gemacht: „Friede und Sicherheit”, „klassenlose Gesellschaft”, „Friedenskampf”. Das war Materialismus pur – und die vielpropagierten irdischen Schätze wurden vernichtet. Dann kam ein neuerer, raffinierterer Materialismus. Früher lief es unter dem Begriff „Habgier”, mit einem moderneren Wort könnte man es „Konsumidiotismus” nennen. Ahnungslose Menschen wurden in Kredite gehetzt, die eine zunehmend schwere Last bedeuteten. Das System der Kapitalanhäufung funktionierte so, dass es sich nicht geziemte, bei den Nutznießern der Privatisierung nach der Herkunft der ersten Million zu fragen. Eine Kritik dieser Anschauung bietet eine bekannte Abwandlung des Vaterunser – umgemünzt auf das Kapital: Kapital unser Das du bist im Westen Amortisiert werde deine Investition Dein Profit komme Deine Kurse mögen steigen Wie in der Wall Street So auch in Europa Unseren täglichen Einsatz gib uns heute Und verlängere unsere Kredite Wie wir sie stunden unseren Gläubigern Und führe uns nicht in Konkurs Sondern erlöse uns von den Gewerkschaften Denn dein ist die halbe Welt Und die Macht Und der Reichtum Seit 2000 Jahren Mammon Ich will kein Demagoge sein. Ich weiß, dass das Kapital die Wirtschaft in Bewegung hält. Und ich weiß natürlich, dass die ärmeren Gegenden und deren Kirchen viel Unterstützung erhielten, wofür den Spendern Dank gebührt. Aber ich habe die Befürchtung, dass die Motten schon aufgebrochen sind und der Rost uns seine Wirkung spüren lässt. Unser Bibeltext macht auf die Gefahren der Bindung an irdische Dinge aufmerksam – sei dies in wirtschaftlichem, politischem oder seelischem Zusammenhang. Ein ungarischer Dichter, Dezső Kosztolányi, schreibt in einem Gedicht: „Der Himmel war's, den ich verlor... / In dieser Welt muss ich nun leben”. Jesu Worte können uns darin helfen, dass wir im verlorenen Himmel wieder heimisch werden können. Hierfür müssen wir lernen, uns von der Welt zu lösen. Denn „wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz”. Das hat Gültigkeit für den einzelnen Menschen – aber auch für das Leben der Kirche. Dazu eine kleine Geschichte: Freudig erzählt ein Landwirt seiner Frau, dass ihre beste Kuh zwei Kälber geworfen hat, ein weißes und ein rotes. Dann sagt er: „Der Herr veranlasst mich dazu, ihm eines der beiden Kälber zu weihen. Wir ziehen beide gemeinsam groß, und wenn die Zeit gekommen ist, verkaufen wir beide. Den Kaufpreis des einen Kalbes behalten wir, und den Preis des anderen widmen wir dem Dienst des Herrn.” Darauf fragt ihn seine Frau, welches denn das Kalb des Herrn sei. Ihr Mann antwortet: „Eine solche Unterscheidung brauchen wir nicht, denn wir kümmern uns gleichermaßen um beide.” Einige Monate später tritt er mit trauerndem Gesicht vor seine Frau und sagt: „Sie ist eingegangen … die Kuh des Herrn.” Liebe Schwestern und Brüder, wie steht es bei uns um unsere irdischen und himmlischen Schätze? Ziehen die irdischen oder die himmlischen Schätze unser Herz an? In den heute beginnenden fünf Tagen werden wir viel über das Herz hören. So wie wir es auch im Buch der Sprüche lesen: „Behüte dein Herz mit allem Fleiß, denn daraus quillt das Leben.” (Spr 4,23) oder wie auch Augustinus einst formulierte: „Ruhelos ist unser Herz, bis es Ruhe findet in dir, Herr.” Auf einem Kirchentag müssen wir diese Frage nicht nur im Blick auf einen einzelnen Menschen, sondern im Blick auf das ganze Volk Gottes stellen. Wo schlägt das Herz der Kirche? Sammeln wir irdische oder himmlische Schätze? Warum schmerzen uns Kirchenaustritte – wegen der ausbleibenden Steuern oder wegen der Sorge um Seelen? Was ist der wahre Schatz der Kirche? Sind es Investitionen, Gewinne aus Kursschwankungen, Geldanlagen, Gebäude und großspurige Pläne – oder, mit Luthers 63. These, das Evangelium? Er schreibt nämlich: „Der wahre Schatz der Kirche ist das allerheiligste Evangelium von der Herrlichkeit und Gnade Gottes.” Wie sehr vertrauen wir uns den vergänglichen irdischen Gütern an? Nicht nur aus wirtschaftlicher, sondern auch aus politischer Perspektive? Unsere Kirchen – sei es in Ost oder West – müssen die himmlischen Schätze suchen und anderen zeigen, was sicherlich auch damit einhergehen muss, dass wir allerhand irdischen Kram weit von uns weisen müssen. Dazu gehört auch, dass die Korruption, die Fremdenfeindlichkeit, der Antisemitismus und die Roma-Feindlichkeit als Sünde benannt werden müssen. Oder dass wir nicht zulassen, dass jemandem Leid angetan wird, weil er eine andere Hautfarbe, eine andere Religion, eine andere Muttersprache oder eben eine andere sexuelle Identität hat. Wie können wir das erreichen? So, dass wir statt nach Irdischem nach dem Himmlischen suchen. Indem wir nicht auf der Erde, sondern im Himmel Schätze sammeln. Indem wir nicht das Kapital, sondern das Vertrauen anhäufen. Hierfür erheben wir unsere Herzen. Anders gesagt: Nehmen wir den einzigen Schatz des Himmels an, Jesus Christus. Denn dann ist auch unser Herz bei Christus. Und dort ist es am rechten Platz. Und diesen Schatz vernichten weder Motten noch Rost. Und nun kommen Sie mit mir – zumindest gedanklich – nach Varsád. Das ist ein Dorf mit deutscher Herkunft in Südungarn. Das Altarbild der evangelischen Kirche zeigt das letzte Abendmahl – doch man hat nicht genug Acht gegeben auf dieses Gemälde. So ist die Farbe vom Bild abgeblättert, das Material ist zerfallen. Die Motten haben fast alles vernichtet. Nur die Gestalt von Jesus Christus blieb verschont. Der Rost hat ihn nicht angegriffen. Er ist mehr als jeglicher irdischer Schatz. Die persönliche Begegnung mit Ihm kann durch nichts anderes ersetzt werden. Um uns und in uns kann sich alles verändern – Er bleibt derselbe. In dieser Welt können wir vieles verlieren. Wenn wir bei Ihm bleiben, dann ist unser Leben vollkommen und wir können immer Trost finden. Viele Sachen sind von diesem Altarbild verschwunden: Menschen, die Jünger Jesu mit ihren eigenen Schicksalen, alltägliche Gegenstände und Dekorationen, Speisen und Getränke. Nur Jesus ist geblieben. Nach einer Zeit war Rom gefallen, Jerusalem ist auch zugrunde gegangen – aber Jesus und sein Reich bleibt immer und ewig. So lasst uns jene Worte Jesu zu Herzen nehmen: Sammelt euch Schätze im Himmel. Denn wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz. Amen. Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.